Horst Müller: Schwerstarbeit und Wassersuppe

Tagebuch einer Flucht

Auszug

Kaum waren wir durch das Loch im Zaun gekrochen und hatten unsere Sachen zusammengerafft, da rannten wir wie besessen durch den Wald. Die Äste knackten - das Laub rauschte. Das Gesicht und die Hände wurden von den Stacheln der Sträucher zerkratzt – ich spürte das alles nicht. Immer nur weiter und weiter weg, damit sie uns nicht mehr erwischen!

Auf freiem Feld werfen wir uns erst einmal hin, um nach rückwärts zu blicken. Doch kein Verfolger ist zu sehen. Es scheint also geglückt. „Ach, wenn es doch bis zum Ende glücken würde“, denkt ein jeder von uns. Wir stehen wieder auf und rennen weiter über einen Bahndamm hinweg - der Atem fliegt. Den Damm haben wir mit letzten Kräften erklommen. Und die rettenden Büsche waren erreicht. Wir krochen in einen ziemlich dichten Busch hinein und machten es uns bequem. Einerseits machte sich ein Gefühl der Geborgenheit bemerkbar, andererseits immer wieder die bange Frage: „Würde es gelingen?“

Lange lagen wir nicht in unserem Versteck, und es war ein fernes Gewehrschießen zu hören. Kurz darauf pfiff auch schon die erste Kugel an uns vorbei und klatschte in die Erde. Sollten wir uns zu einer Aufgabe zwingen lassen? Nein und nochmals nein. Lieber das Letzte aufs Spiel gesetzt. Also flach gemacht und den Kopf wegnehmen. Und es ging. Der Abend brach herein ohne Zwischenfälle. Als es dunkel genug war, wagten wir uns aus unserem Versteck hervor. An ein paar Weiden schnitten wir uns handfeste Wanderstöcke ab. Bei herrlich klarem Sternenhimmel begannen wir unsere Wanderung. Immer querfeldein Richtung Nordost. Jedes Dorf wurde ängstlich umgangen, bei jedem Geräusch wurde halt gemacht. Mitunter war es unheimlich. Es mag wohl gegen ein bis zwei Uhr gewesen sein, als wir uns verliefen. Wir standen vor einem Busch, den wir glaubten schnell durchqueren zu können. Eingedrungen waren wir schnell, doch der Busch nahm kein Ende. Mitten drin im Wald bei Nacht, dazu kamen noch einige Wolken auf, so dass von den Sternen, die uns ja den Weg zeigten, nicht mehr viel zu sehen war. Trotzdem irren wir weiter. Von einem Baum zum anderen. Äste schlagen ins Gesicht, man sieht die Hand vor Augen nicht. Ernst taumelt vor mir her. Wenn er sich mal einen knappen halben Meter von mir entfernt, höre ich ihn nicht mehr, höre nur noch sein Tapsen. Er bleibt stehen, in der Dunkelheit habe ich es nicht gesehen; ich remple ihn an.

Er will nicht mehr, er hat aufgegeben. Er nimmt seinen Rucksack ab, legt ihn an einen Baum und setzt sich dazu. Mit solchen Schwierigkeiten hatte ich nicht gerechnet. Jetzt erinnerte ich mich, er sprach von zwei Gehirnoperationen. Da gingen ihm jetzt die Nerven durch. Ich redete ihm gut zu, so wie man es bei kleinen Kindern macht, wenn sie artig sein sollen. Aber wenn ich allein gewesen wäre, wäre es noch schwieriger gewesen. Wenn ich durch ihn auch eine schwere Bürde aufgeladen hatte, war es doch wohl immer noch einfacher als ganz allein. Schließlich steht er doch wieder auf und wir setzten unsere Suche nach den Sternen fort. Ernst sieht als erster ein Licht und bringt uns auf eine Wiese. Wir sind beide glücklich. Glück muss man haben und an sein Glück muss man glauben. Wir mussten weiter Glück haben, denn 3 Sternschweife konnte ich beobachten – also 3-faches Glück. Manche lachen darüber, ich selbst lächle jetzt auch ein wenig, und doch, damals kam es mir wie ein Gruß, wie eine Aufmunterung, vor.

Durch das Irrelaufen hatten wir viel Zeit verloren......

 

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